Seitensprung

Meine Großmutter guckte schon unruhig, wenn nach der Sonntagspredigt eine der besonders eifrigen Kanzelschwalben ihren Mann zu eifrig anhimmelte, indem sie ihm wieder und immer wieder versicherte, wie tief berührend er Gottes Wort ausgelegt habe. Diese Unruhe, wenn ihr Mann andere tief berührte, erfasste bisher alle Frauen aller Männer aller Zeiten, wenn sie menschlich liebten. Und sie ergriff alle Männer aller Frauen aller Zeiten, denn Eifersucht ist intergeschlechtlich, suprageschlechtlich. Wenn es gut ging, dann einigten sich die Partnerinnen auf dem Niveau von „Appetit holst du dir notfalls auswärts - aber gegessen wird zuhause." Wenn es nicht gut ging-dann war der Teufel los... Wie jetzt bei mir, der ich Pech hatte, weil meine Bürochefin folgendes E-Mail von Claudia aus dem Drucker zog und entgegenreichte. Hihoooo, ja, Du hast recht, der momentane Server ist recht lahm...Hab übrigens wieder neue Fotos hochgeladen unter (es folgt der E-Mail-Absender). Die Adresse kennste ja noch vom letzten Mal. Treffen wir uns nächste Woche wie besprochen??? Ort wie immer." Claudia schloss ihre elektronische Liebesbotschaft an mich mit einem „Melde Dich bald mitsamt dreier Ausrufungszeichen(!!!). Das Entgegenreichen dieser DINA4-Seite geschah völlig stumm, obwohl meine Bürokönigin sonst alles kommentiert. In der Geste des Entgegenreichens lagen alle Ausrufungszeichen dieser Welt und in ihrem Gesicht alle Fragezeichen. Eigentlich ist sie nicht prüde, sondern steht mit beiden Beinen und dem, was diese tragen, auf dem Großstadtpflaster Hamburgs. Aber sie liebt mein Weib (fast so wie mich). Claudias Botschaft kommentierte ich mit dem-zugegeben nicht sonderlich souveränen - Ausruf: Was ist denn das“ (mit sowohl Ausrufe-, als auch Fragezeichen). Dann machte ich mich an die Analyse: Tatsächlich hatte diese blöde Kuh meine offizielle E-Mail-Nr. im Universitätsrechner angewählt. Und noch tatsächlicher stand über meinem vollen Namen samt Funktionsbezeichnungen noch ein klares „Betr.: Meine Nacktfotos“. Mittags rief ich Christine zuhause an, las ihr Claudias Botschaft vor und versicherte ihr-in souveränem Ton und überzeugend - dass ich Claudia nicht kenne. (Obwohl: Solch überzeugende Souveränität benutzen wir ja auch, wenn wir tatsächlich zur Seite springen...). Noch überzeugender war für Christine die Information, dass im Verlauf des Vormittags mehrere 100 verdutzte, verunsicherte, amüsierte Männer die Hamburger Telefone heißtelefonierten mit der unsouveränen Frage, wer denn Claudia sei. Wessen Kollegen Irrläufer hier bei einem landete? Denn Claudia hatte eine Massenpost geschickt. An alle Professoren, die mit ihren Namen und E-Mails im Vorlesungsverzeichnis standen. Ich dachte an meine Großmutter und an Christine: Die Frauen von heute müssen uns Männern von heute noch mehr vertrauen denn je. Wegen der Claudias dieser Welt. 19. März 2002